Lillebror

Tja, Menschen aus den Alpen oder aus weitern Teilen Skandinaviens werden sich da nicht einfühlen können. Aber: Hamburg und der Großteil Norddeutschlands beteht aus Wasser, Sand, Lehm, Erdreich, Matsch, Sumpf, Geest, Marsch, Moor, Strand, Düné, Wald — aber nicht aus Steinen, die mal größer als eine halben Meter werden — und auch diese Exemplare kommen auf den Feldern meist in so großem Abstand vor, dass man sie Findling nennt, weil man sie suchen muß, bevor man sie findet. Also haben alle Hamburger oder fast alle und die Bewohner der Umgebung ein gewisses Faible für größere Steine. Was man nicht hat, das will man, wie üblich… Das erklärt eventuell einer Menge Bayern und Österreichern und Schweizern, warum im Frühjahr scheinbar die Gesamtbevölkerung der Hansestadt jeden verfügbaren Raum auf den alpinen Pisten vereinnahmt.
Und es erklärt vielleicht all den Felsenbewohnern der Welt, warum man hier in Hamburg so eine Aufstand um einen kleinen Fels macht, der vielleicht mal so 2 bis 3 Meter groß ist. Sein großer Bruder ist natürlich größer, aber auch er wäre in anderen Region eher Ärgernis als Sehenswürdigkeit — die beiden Brocken hier aber erfreuen sich einer gewissen Beliebtheit, zumal sie beim Tunnelbau unter der Elbe im Weg waren (Schadenfreude ist immer beliebt, insbesondere, wenn es darum geht, dem technokratischen Menschen zu beweisen, dass nicht immer alles so läuft wie geplant…).
Der Lillebror bleibt im Gegensatz zum «Alten Schweden» trotz seiner eiszeitlichen Reise hierher eher unbeachtet. Nicht weiter schlimm — aber unbeachtet bleibt meist auch der Park, der hier beginnt oder endet. Und der ist zwar kein Höhepunkt eruopäischer Parkkultur aber ein hervorragender grüner Weg zwischen etlichen wichtigen Punkten der Gegend, den vor allem Fahrradfahrer kennen müssen, denn hier kann man in Nord-​Süd-​Richtung über einen Kilometer ampel-​und autofrei fahren (von der Autobahnauffahrt Othmarschen am Kleingartengelände entlang geradeaus bis eben zum Lillebror), in derBreite ist hier die Durchfahrt über den Elbtunneleingang zum Altonaer Krankenhaus — und dann noch der schöné historische Röperhof aus dem 17. Jahrhundert. Also: Der Lillebror ist doch der Beginn einer schönen kleinen Entdeckungsreise…

Jahrtausende lang lagen Lillebror und sein großer Bruder, der alte Schwede, gemeinsam unter der Elbe. In der Eiszeit hatten sie sich von Småland aus aufgemacht, die Welt zu entdecken.
In Hamburg haben die beiden gemeinsam eine tolle Zeit, doch dann versacken und versumpfen sie zusehends. Es folgen viele tausend Jahre Ruhe.
Dann werden die beiden geweckt. Und dem große Bruder gelingt eine unglaubliche Karriere:
Zuerst die spektakuläre Bergung und der Transport unter riesigem Medienrummel. Er bekommt einen Traumstandort direkt am Elbufer und eine Spezial-​Anti-​Graffiti-​Beschichtung. Schließlich die eigene Schautafel und ein offizieller Name. Der alte Schwede ist heute ein ständig fotografierter Touristenmagnet und ein Top-​Platz bei Qype.
Zu seinem kleinen Bruder hat er allerdings keinen Kontakt mehr. Und für Lillebror lief es leider nicht so rund. Nach der unsanften Erweckung durch Trude wird er ohne größere Öffentlichkeit an den Rand einer Wiese beim Röperhof abgesetzt. Inzwischen hat er einige Graffiti erlitten, auch ist er eher eine Attraktion für Kinder, die auf ihm herum turnen. Das schlimmste: Lillebror hat nicht einmal einen richtigen Namen. Er heißt nur Stein von Othmarschen. Das alles macht Lillebror sehr traurig.
Wenn Lillebror groß ist will er auch seinen Standort wechseln. Er überlegt noch, ob Jungfernstieg, Rathausmarkt oder IKEA-​Parkplatz.
Hey då, Lillebror!