Rheinkilometer 774,5

PostXmas-​Blues (Zwischen den Jahren)
Bierbäuchig, blümerant und käsig blaß, als sei ihm noch speiübel von gestern, steht der Tagmond am blauschimmelblauen Himmel. Dermaßen expressionistisch wollte ich, auf den Spuren Gottfried Benns oder Georg Heyms, diesen Text eigentlich beginnen, aber dann ging mir schon direkt die Puste aus für solche metaphorischen Kraftmeiereien. Es herrscht der PostXmas-​Blues, die post-​koitale Leere und post-​orgiastische Erschöpfung des Zweiten Feiertages. Noch können wir es kaum fassen: Wir haben’s geschafft! Wird sind durchgekommen! Das komplette glorreiche Programm lustvollen Selbstverlustes: Vorlust, Erregung, Besessenheit, furioser Höllenritt, schwindelerregende Plateauphase, schließlich Bumsti! Klimax! Aaaaaaah! Ermattet, erledigt und ein klein bißchen gedemütigt gleiten wir aus den dionysischen Bacchanalien der Weihnachtsfestorgie sanft in die milden, kühlen Gefilde jener rätselhaften Zeit, die meine Mutter zwischen den Jahren nannte. Für einen Moment bedauere ich, das Rauchen aufgegeben zu haben. Mir ist nach einer Zigarette danach.
Annähernd ausgenüchtert, kommt mir stattdessen plötzlich erleuchtungshalber in den Sinn, die Tatsache, daß alle Geschäfte und Restaurants geschlossen haben, müsse ja nicht unbedingt mit dem Verbot verbunden sein, sich als Privatmann im Freien ein wenig zu bewegen. Oh komm Freund! Ins Offene!!! jubele ich mir mit Freund Hölderlin selber zu und schwing mich gesundheitsbewusst aufs Fahrrad. Achtung: Geddo-​Patrouille!
Mal gucken: Haben außer mir noch andere Menschen überlebt? (Gut, daß ich nicht auf dem Land wohne: Den vorwurfsvollen Blick von Mutter Gans könnt ich jetzt kaum ertragen.) Ja, es gibt Überlebende: Vereinzelt einsame Spaziergänger, zerknirschte Kalorienverbrenner und pflichtbewusste Frischluftschnapper, darunter sogar einige Pärchen, die noch miteinander reden, wenn auch einsilbig und ohne Lächeln, und natürlich müssen die Kinder auf die Weide, ihren in quälenden Kindergottesdiensten und Oma-​Besuchen unterdrückten Bewegungsdrang ausleben, herumhoppeln, gegen Bälle treten, schlimmstenfalls teure ferngesteuerte Modellautos durch den Schlamm brettern lassen.
Was tun eigentlich meine MiBümiMihi’s (Mitbürger mit Migrationshintergrund)? Schwer zu sagen. Hauptsächlich, was sie auch an islamischen Feiertagen tun: Sich gegenseitig in Clan-​Stärke besuchen; zellophan-​umhüllte Blumensträuße schleppen, reichlich Fleisch essen. Manche heiraten lautstark. Statt Stille Nacht… dominiert im Viertel das unsterbliche Duo von Davul und Zurna (Wer’s nicht kennt: Treibende Trommel + zahnwurzelziehend quäkige Balkan-​Klarinette). Man tanzt, trotz Minustemperaturen, auf der Straße, die jungen, noch zu habenden Damen in schulterfreien Abendkleidern. Die Herren tragen, wie in Mafia-​Filmen von Martin Scorsese, silbrig glänzende Glenschek-​Anzüge und hängen ausnahmslos alle am Handy. Efendi Wichtigmann! (Eben mal noch ein Geschäft tätigen! Zweihundert Festplatten nach Bulgarien; auf dem Rückweg über Bosnien ein paar Paletten Winterreifen mitnehmen…)
Potentielle Schwiegersöhne und –töchter werden ausgestellt und kritisch gemustert. Sexappeal kommt bei den Müttern nicht gut an. Ich fühl mich an Jugendtage in Albanien erinnert, an die Zeiten des charmanten Mörders Enver Hoxha. Auch er trug gern Glenschek-​Anzüge.
Rheinkilometer 774,5 das ist eine riesige, geflieste und gekachelte, gähnend leere und totalitär menschenlose Promenade, ein Platz für Großkundgebungen im Prinzip. Es gibt Stadtarchitektur, da fühlt sich der Mensch als Bakterium. Kein Baum, kein Strauch, kein organisches Leben, nur in Spuckweite der gleißend-​mächtige Rhein, der, majestätisch und selbstbewusst, seinen Weg nimmt, dorthin, wo heute sonst keiner hinwill: nach Holland, Rotterdam. So ein Strom taugt dazu, elegisch auf ihn herab zu blicken: Alles fließt, alles vergeht, das heißt aber andererseits auch: Alles geht, gottseidank, irgendwann vorbei. So wie der Ehekrach, das Kindergenerve, der Weihnachtsstress. Die Kitschmärkte mit ihren tannen-​betackerten Stimmungsbuden werden abgebaut. In den Bankfilialen bearbeitet man die Ratenverträge. Die Personalpläné für die Inventur hängen bei den Discountern schon aus. In den Nachrichten heißt es, die richtige Krise kommt erst noch. Alles wird enger, schlimmer und teurer.
Den Menschen ist es erstmal egal. Sie haben es geschafft. Ein ganzes Jahr ist jetzt Ruhe: Kein redundanter Reklame-​Rummel, keine Stimmungssülze, kein Besinnungsscheiß! Wir kommen wieder auf den Teppich. Daß er nicht fliegt, ist nicht schlimm. Wir schweben auch so: Besinnungslos, bestimmungslos, ungeortet: Zwischen den Jahren.
Eine Location für den gepflegten Blues: Rheinkilometer 774,5. Ein kleines Reichsparteitagsgelände, um die innere Leere zu spiegeln, Treffpunkt der Verkaterten, Verbohrten und Verzweifelten, Ensemble aus fließendem Wasser und vermauertem Stein. Sollen wir springen? Iwo! Aber nein! Schon in acht bis zehn Wochen wird Karneval sein!