Polizeipräsidium – Direktion Schutzpolizei

KRASKA HAT ANGST
Guten Abend, gute Nacht, mit Ro-​o-​hosen beda-​hacht,
mit Näglein besteckt, schlüpfe unter die-​hi Deck:
Morgen früüüüh, wenn Gott will, wirst du wieder ge-​he-​weckt,
morgen früüüüh, wenn Gott will, wirst du wieder-​her geweckt.
Haltet mich für gestört, aber dieses alte, von Brahms so sämig-​sentimental vertonte Schlaflied aus Des Knaben Wunderhorn (1808), das meine Mutter allabendlich mit mir zu singen pflegte, hat mich immer zutiefst geängstigt! Ich wollte nämlich gar keine Rosen im Bett, ich fürchtete mich vor diesen Nägeln (wer wollte mich denn bloß um Himmels Willen und warum … mit Nägeln bestecken?), und überhaupt, was hieß das denn: Wenn Gott will?! Und wenn mal vielleicht NICHT? Dann krepier ich in der Nacht, oder was? (Das dieser ganze bizarre Romantik-​Mist nur im Text stand, damit es sich reimt, konnte ich als Sechsjähriger noch nicht kapieren.) In Ängstlichkeit schlief ich mühsam ein, mich vor Gott fürchtend, dem, so behauptete jedenfalls meine Mutter, es auf jeden Fall schon mal extrem missfiel, wenn sich physiologisch des Knaben Wunderhorn bei mir zu regen und zu rühren begann. (Ängstlichkeit bewahrt ja vor Frühreife nicht! Eher im Gegenteil!)
Ich glaub, ich war leider überhaupt der größte Schisser meines Jahrgangs. Im Entwickeln von Ängsten brillierte ich unangefochten als Wunderkind. Ich fürchtete mich vor Sachen, die andere Kinder meines Alters noch nicht mal kannten! Ich hatte, von Gott abgesehen, Angst vor Bakterien, meinem Vater, den Doofmännern und Rotzlöffeln in meiner Klasse und vor Mädchen hatte ich auch Angst! Am meisten vor den schönen! Außerdem u. a. vor Hunden, Windpocken, Schneebällen, tödlichen Fahrradunfällen und Psychologen. Denen wurde ich als Kind gelegentlich vorgestellt sie machten routiniert besorgte Gesichter, sahen mich an, als hätte ich ekligen Ausschlag, und empfahlen klinische Beobachtung.
Ich hatte außerdem Angst vor meinem sadistischen Turnlehrer, davor, Schwimmen lernen zu müssen, vor Kartoffeleintopf mit Wirsing und davor, nachts versehentlich zu verdursten. Und draußen dann, in der Welt vor der Haustür, lauerten überdies auch noch Kreaturen wie unsere meschuggene Nachbarin, von der es hieß, sie sei schizophren, und die mich kurzbehostes Angsthäschen schon mal irrtümlich mit ihrem Gatten (!) verwechselt und daher danach getrachtet hatte, mich mit einer gusseisernen Bratpfanne zu erschlagen! Der Schreck hierüber sitzt mir im Grunde noch immer in den Knochen. Immer, wenn jemand sich grundlos aggressiv mir gegenüber verhält, muß ich an unsere Nachbarin, die durchgeknallte Ikebana-​Trainerin Frau Freege denken! So was prägt doch, oder? Und zwar ungünstig!
Heute, viele Jahrzehnte später, bin ich immer noch ängstlich, überspiele das aber zumeist mit einer großen Klappe und angestrengt selbstsicherem Auftreten. Außerdem ist es jetzt natürlich komplizierter mit der Angst. Wo soll man mit dem Fürchten anfangen, wo aufhören? Gestern radele ich zur Arbeit und denk wieder, ich wohn ja im Grunde doch im Gazastreifen (II):
Zig Hundertschaften Polizei in grünschwarzer Kampfmontur und mit automatischen Waffen ausgerüstet, stehen Spalier und säumen meinen Weg. In Sin City herrscht wieder Ausnahmezustand, weil in der Innenstadt, am Amtsgericht, ein Prozeß gegen einen mutmaßlichen Mörder stattfindet, der mutmaßlich zu den Hell’s Angels gehört und mutmaßlich seinen Nebenbuhler, ein mutmaßliches Mitglied der Bandidos, niedergeschossen hat, mutmaßlich wegen einer Frau. (Ihr seht, ich formuliere gaanz vorsichtig!)
Nun wusste ich nicht wirklich, und mußte den ganzen Tag drüber grübeln, ob ich jetzt für die starke Demonstration der Staatsmacht dankbar sein sollte? Anderseits, von den drei älteren Herren meines Alters, die friedlich vor dem Hauptquartier der Bandidos bei ihren überschweren Harleys saßen und in die Mündungen von polizeilichen Maschinenpistolen blickten, fühlte ich mich eigentlich nicht akut bedroht. Es sind ja auch meine Nachbarn. Also wer schützt hier nun wen vor wem? Die Bandidos vor den Hell’s Angels? Umgekehrt? Uns Bürger vor den bösen Rockern? Oder Sin City vor der Konkurrenz der albanischen/​bulgarischen/​russischen/​kroatischen/​türkischen Mafia?
Ich kam zu dem Ergebnis, daß es im Prinzip begrüßenswert ist, wenn es eine funktionierende Schutzpolizei gibt. Man kann sie rufen, wenn etwa die Alkfraktion unten im Erdgeschoß nachts um vier wieder unter lautem Krakeelen auf sich einprügelt. Aber bei zwei Beamten liegt bei mir die Obergrenze. Vierzig Mannschaftswagen in der Straße zu haben, und zahllose angstbleiche junge Menschen mit MPs in der Hand, das macht mir schon wieder Angst.